Warum Kinder zu Tätern werden
Pro Juventute-Enquete 2025
Gewalt durch Kinder – ein Thema, das erschüttert und zugleich Fragen nach den Ursachen, Hintergründen und wirksamen Lösungen aufwirft. Im Rahmen der Pädagogischen Enquete 2026 im Kunsthaus Graz widmete sich Prof. Dr. Menno Baumann dieser brisanten Thematik. Statt Strafverschärfungen fordert er mehr Verständnis für überforderte junge Menschen.
Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf und einer der renommiertesten Experten für Kinder- und Jugendgewalt im deutschsprachigen Raum, zeigt in seinen Forschungen: Kinder werden nicht von heute auf morgen zu Tätern. Vielmehr steht hinter aggressivem oder gewalttätigem Verhalten ein komplexes Zusammenspiel aus biografischen Belastungen, sozialem Umfeld und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Armut, Bildungsungleichheit, familiäre Gewalt, digitale Empörungskultur und Perspektivlosigkeit sind zentrale Risikofaktoren.
"Wir erleben eine Generation, die in vielen Bereichen unter Druck steht – ökonomisch, sozial und emotional. Wenn Strukturen brüchig werden, verlieren Kinder Halt und Orientierung", so Baumann. In der aktuellen polizeilichen Kriminalstatistik zeigt sich ein Anstieg der Gewaltdelikte durch Kinder und Jugendliche. Dennoch mahnt Baumann zu Differenzierung: Die Zunahme spiegle nicht nur mehr Gewalt, sondern auch eine höhere Sensibilisierung und veränderte Anzeigebereitschaft wider. Signifikant ist auch, dass die Gewaltbereitschaft bei über 60-Jährigen rasanter als bei Kindern steigt.
Sein Ansatz der Verstehenden Diagnostik plädiert für ein tieferes Verstehen des Verhaltens statt vorschneller Zuschreibungen.
Fachkräfte sollen die Lebensgeschichte, Traumata und sozialen Bezüge eines Kindes in den Blick nehmen, um angemessene und wirksame Hilfen zu entwickeln. "Kinder sind keine Systeme sprengenden 'Problemfäll' – sie sind junge Menschen, die in überfordernden Lebenslagen reagieren", betont Baumann.
Prävention statt Strafverschärfung
Baumann spricht sich klar gegen eine Senkung des Strafmündigkeitsalters aus. Repressive Maßnahmen verfehlen aus seiner Sicht den Kern des Problems. Stattdessen brauche es frühzeitige, niederschwellige und alltagsnahe Unterstützung: Soziale Arbeit in Schulen und Familien, traumasensible Betreuung, flexible Hilfsangebote und partizipative Konzepte in den Quartieren.
Hohe Aufklärungsquote
Auf gesellschaftlicher Ebene fordert Baumann aktive Armutsbekämpfung, mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit sowie den Abbau von starren Rollenbildern. "Wir müssen Kinder in ihrem Lebensumfeld erreichen – bevor sie in die Spirale der Gewalt geraten."
Was polizeiliche Aufklärungsquoten von Straftaten betrifft, betont Baumann, dass diese extrem hoch sind: "Kinder und Jugendliche gehen 'zu' offen auf ihren sozialen Netzwerken um. Da ist es für Ermittler oft ein leichtes Spiel im Zuge von Ermittlungen." Was sich auch geändert hat ist die Verlagerung von sozialen Brennpunkten in Großstädten hin zu verödeten Landstrichen: "Wir bemerken eine Explosion von Gewaltbereitschaften im ländlichen Raum."
Pro Juventute als Praxispartner
Als Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung betreut Pro Juventute in derzeit 35 Wohngemeinschaften Kinder und Jugendliche bis zu deren Volljährigkeit und zwölf Teams der mobilen Dienste begleiten Kinder und Jugendliche und deren Familien in ihrem Alltag. Geschäftsführerin Mag.a Andrea Scharinger berichtet von steigenden Herausforderungen in der Arbeit mit hochbelasteten Kindern. "Immer häufiger benötigen junge Menschen intensive, individuelle Begleitung. Mit innovativen Konzepten wie der Familienintensivbegleitung und dem Leitgedanken der Verstehenden Diagnostik setzen wir auf frühe, familiennahe Unterstützung und auf die Stärkung von Fachkräften durch Aus- und Weiterbildung", erläutert Scharinger.
Das Fazit
Kinder, die Gewalt ausüben, sind oft selbst Opfer von struktureller oder familiärer Gewalt. Die Antwort darauf kann nur eine sein: Hinschauen, verstehen, unterstützen – bevor es zu spät ist.
Kinder als Täter von Gewalt – Kindliche Gewalt im Kontext von Beziehung, Biografie und Umfeld
Im März 2026 gestaltet Prof. Menno Baumann ein zweitägiges Seminar an der Pro Juventute-Akademie. Im Mittelpunkt stehen die Fragen nach den Ursachen, Dynamiken und Auswirkungen von gewalttätigem Verhalten bei Kindern sowie die Entwicklung hilfreicher pädagogischer Haltungen und Strategien im Umgang damit.
Nähere Informationen finden Sie hier.
Das Buch zeigt in einem ersten theoretischeren Teil die Bedeutung verstehender Verfahren der psycho-sozialen Diagnostik im Diskurs der pädagogisch-diagnostischen Arbeitsfelder sowie der Entwicklungswissenschaften auf und schafft die notwendigen theoretischen Grundlagen für das Handeln.
Im daran anschließenden praktischeren Teil werden Methoden und Verfahren der verstehenden Diagnostik praxisorientiert vorgestellt. Das Buch bietet Materialien, Leitfäden, Auswertungsanweisungen sowie Praxisbeispiele für den Einsatz der vorgestellten Verfahren und Methoden.






